Samstag, 1. November 2014
überraschung
Ich bekomme eine Anklageschrift auf den Tisch.
Das Tatobjekt ist ein Überraschungsei "zum Preis von 1 Euro". Ui, das ist ja ein Wucherpreis, bekommt man nicht bei Aldi drei Stück für 1,50 Euro oder so? Na, der Bahnhofskiosk ist eben teurer.
Das Tatsubjekt ist ein alter Kunde von mir, ein obdachloser Alkoholiker, zur Zeit auf Bewährung draußen. Und jetzt das! Ist das zum Lachen oder zum Weinen?
"Was wollten Sie denn mit dem Ü-Ei?" frage ich ihn.
"Gar nix. Ich wollte nur den blöden Kioskmann ärgern, weil der immer gleich die Polizei anruft, wenn ich mal im Bahnhof campieren will."
Herrje, was soll ich dem Richter sagen, wie soll ich ihn davon abhalten, die Bewährung zu kassieren, das kostet mich eine schlaflose Nacht vor der Verhandlung. Am nächsten Morgen finde ich im Kühlschrank (hinter der Mayonnaise und dem Ketchup) ein anscheinend vergessenes Überraschungsei und stecke es in meine Aktentasche. Dann schnappe ich mir Jonas und Rufus, setze den einen bei der Schule, den anderen beim Kindergarten ab und fahre weiter zum Amtsgericht.
Soll ich oder soll ich nicht? Dem Richter das Überraschungsei auf den Tisch packen wie Columbus, vielleicht mit den zackigen Worten: "Hier, damit dürfte sich die Angelegenheit wohl erledigt haben?" Oder ist das ein billiger Taschenspielertrick, mit dem ich erst recht dafür sorge, dass mein Kunde wieder in den Knast wandert?
Ich krame in meiner Aktentasche herum. Wo ist denn überhaupt dieses Ei? Ich weiß wirklich nicht, wie andere Anwälte das schaffen, immer so schnell parat zu sein, dann auch noch mit der Robe und allem. Da ist kein Überraschungsei.
"Frau Anwältin", fragt der Richter in belustigtem Ton, "was suchen Sie denn? Kann ich vielleicht irgendwie behilflich sein?"
"Neinja. Hier war gerade noch ein Überraschungsei..."
"Aha", schmunzelt der Richter, "Sie wollen mich wohl bestechen, aber Ihr Mandant mit dem ach so süßen Zahn ist uns zuvor gekommen."
Schließlich wird es ein teures Überraschungsei. 15 Tagessätze zu 10,00 Euro, das macht 150,00 Euro. Aber die Freiheit bleibt erhalten, Hauptsache.
Zuhause knöpfe ich mir meine Söhne vor: "Wer hat das Überraschungsei geklaut?"
"Du, Mama!", sagt Rufus prompt. "Das war nämlich meins!"
Und Jonas setzt noch einen drauf: "Ich will auch ein Überraschungsei! Wieso hat Rufus ein Ei gekriegt und ich nicht? Das ist ja voll ungerecht!"

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